Der Prozess des (Ver)hungerns ist uns nicht bekannt. Aber mit Blick auf medizinische Abläufe lässt sich vielleicht erahnen, wie sich Hunger für die Menschen (jeder neunte) anfühlt und welches Leid dabei entsteht.
Das Blut stirbt
Das flüssige Organ erfüllt viele der lebensnotwendigen Aufgaben im Körper. Es transportiert Sauerstoff und Nährstoffe, wehrt Krankheiten ab, heilt Wunden und hält den Körper warm. Seine wunderschöne Farbe erhält das Blut durch das Hämoglobin, ein Protein, das Sauerstoff bindet und in den ganzen Körper weitertransportiert. Das Blut wird im Knochenmark gebildet und erneuert sich regelmäßig. Für die Blutbildung sind aber auch Nährstoffe erforderlich.
Eine quantitative Mangelernährung bedingt eine spezifische Störung der Blutbildung. Bei einer Panzytopenie kommt es zu einer starken Verminderung aller drei Blutzellreihen – den Roten Blutkörperchen, den Weißen Blutkörperchen und den Blutplättchen.
Die Roten Blutkörperchen transportieren den Sauerstoff im Blut. Bei einem Mangel kommt es zu einer Form der Anämie, was zur verminderten Transportkapazität für Sauerstoff führt. Als Folge drückt sich Erythrozytopenie beispielsweise in verminderte Leistungsfähigkeit, Müdigkeit, Schwindel, Atemnot oder Herzrasen aus.
Die Weißen Blutkörperchen sind keine homogenen Zellen, sondern eine Blutzellen-Familie mit unterschiedlichen Aufgaben im menschlichen Immunsystem. Zu den Aufgaben der Leukozyten gehören das Erkennen von körpereigenen und körperfremden Strukturen sowie die Bildung von Antikörper. Mit einem Mangel der Weißen Blutkörperchen erhöht sich auch die Infektanfälligkeit, was sich beispielsweise durch verschiedene Entzündungen ausdrücken kann. Manche Entzündungen klingen von allein ab, andere können ohne Behandlung tödlich sein.
Die Blutplättchen sind für die Blutstillung zuständig. Ohne die freigesetzten Stoffe der Thrombozyten würden man bei einer Verletzung einfach immer weiter bluten. Eine Thrombozytopenie, also ein Mangel an Blutplättchen, kann sich durch häufigeres Nasenbluten ausdrücken, aber auch zu Hirnblutungen führen.
Eine weitere Folge für das Blut ist eine Absenkung des Blutzuckerspiegels. Erste Anzeichen einer Unterzuckerung können sein: Zittern, Schwitzen, Blässe, Schwindel, Kopfschmerzen oder Herzrasen. Ein Phänomen, das vielen Menschen in den Industrieländern durchaus bekannt ist. Hier empfiehlt sich vielleicht ein Schokoriegel und die Symptome verschwinden. Leicht gesagt, wenn der Schokoriegel vorhanden ist. Sinkt der Blutzuckerspiegel weiter, kann es zu einem Hypoglykämischen Schock kommen, was sich durch eine Störung des Zentralnervensystems ausdrückt. Krampfanfälle bis hin zum Koma können die Folgen sein.
Atrophie – Gewebeabbau
Eine Unterernährung führt zum Abmagern. Hierbei baut sich das Gewebe des Körpers ab. Für gewöhnlich erneuern sich Körperzellen andauernd, für neue Zellen benötigt der Körper aber auch Wasser und Nahrung. Der Körper legt für schlechte Zeiten Fettreserven an. Ernährt man sich unzureichend, greift der Körper als erstes auf die Speicherfettdepots zu, um den Energiebedarf zu decken, sofern man welche hat. Dauerhaft unzureichende Kalorienzufuhr führt zu einem Protein- und Energiemangel. Die Speicherfettdepots sind kaum noch vorhanden, die Haut ist dünn und trocken, das Gesicht eingefallen, die Reaktionsfähigkeit stark verlangsamt.
Hungern führt auch zum Abbau der Muskulatur. Das betrifft nicht nur die Bewegungsmuskulatur, sondern auch lebenswichtige Muskeln. Das Herz ist ein Muskel. Das Zwerchfell benötigen wir zum Atmen. Der Transport von Nahrung durch den Verdauungstrakt benötigt Muskeln. Das Entleeren ebenfalls. Muskeln sind nicht nur eine ästhetische Frage, sondern lebensnotwendig. Für Muskeln benötigt der Körper aber nicht nur Fitness-Studios, sondern auch Nahrung. Ein Abbau der Muskulatur durch Mangelernährung kann diverse Beschwerden hervorrufen, nicht nur in der Bewegung, sondern auch im Herz-Kreislauf-System, der Atmung oder Verdauung. Nichts ist mehr einfach.
Auch das Gehirn kann abmagern. Unser menschliches Gehirn ist für etwa 20 Prozent des gesamten Energieverbrauchs verantwortlich. Dabei wird aber nur ein sehr geringer Teil der Energie für das Denken verwendet. Mehr als 90 Prozent gehen auf das Konto der Körperfunktionen: Sinne, Atmen oder das Herz-Kreislauf-System. Durch eine Hirnatrophie können diverse kognitive Fähigkeiten eingeschränkt werden: die Sinne sind eingeschränkt, die Aufmerksamkeit, selbst das Sprechen. Das Gehirn braucht Glukose und Sauerstoff, um zu funktionieren. Auch hier führt ein länger anhaltender Zustand zu einem dauerhaften Schaden.
Kwashiorkor und Marasmus
Im Verlauf des akuten Hungers entstehen zwei typische Krankheitsbilder. Markant bei Kwashiorkor sind die Ödeme im Bereich des Bauches – eine Wasseransammlung. Diese können die körperliche Entwicklung und das Wachstum beeinträchtigen. Das Krankheitsbild tritt bei proteinarmer jedoch kohlenhydratreicher Kost auf, wenn beispielsweise nur Reis oder Mais vorhanden ist. Hierbei ist zwar der Kalorienbedarf gedeckt, nicht aber der Proteinbedarf.
Das zweite Krankheitsbild heißt Marasmus, der Name kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet: schwach werden. Hierbei kann der Kalorien- und Proteinbedarf auf Dauer nicht mehr gedeckt werden, eine extreme Auszehrung findet statt. Der menschliche Körper ist nur noch Haut und Knochen, Reserven sind nahezu aufgebraucht. Der Körper ist massiv geschwächt, eine Therapie zur Wiederaufnahme von Nahrung muss sehr vorsichtig begonnen werden.
Laut dem Body-Mass-Index ist bereits ein BMI kleiner als 17,5 kritisch. Die Muskulatur und Speicherfettdepots bauen sich auf ein Minimum ab. Der Blutdruck und die Herzfrequenz sind verringert, alle drei Blutzellreihen vermindert. Durchfallerkrankungen treten auf. Die Haare können ausbleichen bzw. ausfallen und Pigmentstörungen können auftreten. Bei Frauen kann die Regelblutung ausfallen, bei Schwangeren kann es zum Spontanabort kommen – eine vorzeitige Beendigung der Schwangerschaft vor der 24. Schwangerschaftswoche. Der Hunger der Mutter kann bei Ungeborenen dauerhafte Schäden verursachen. Stillende Frauen bilden nicht ausreichend Muttermilch, um ihr Neugeborenes stillen zu können. Männer können impotent werden. Das Atmen fällt schwer. Durch die Unterversorgung des Gehirns können mentale und psychologische Störungen wie Verwirrtheit, Angst und Depression sowie Spasmen und unkontrollierten Bewegungen auftreten.
Eine akute und chronische Unterernährung kann zum Hungertod führen, ein langsamer und schmerzhafter Prozess, der sich über Wochen, Monate oder sogar Jahre ziehen kann. Das Immunsystem ist durch die Mangelernährung stark beeinträchtigt, weshalb selbst banale Infektionen zum Tod führen können. Sie sind die Haupttodesursache mangelernährter Kinder. Sind ein Drittel bis die Hälfte der gesamten Körperproteine abgebaut, kommt es zum Hungertod. Die bittere Realität für Millionen Kinder jedes Jahr.